Rogue Tribe


 

Die Sonne knallte unbarmherzig von einem milchig grünen Himmel und bleichte die Gebeine der toten Stadt weiter. Kein Vogel sang, keine Insekten summten. Nur das ferne Knattern eines Motors, das allmählich näher kam. Endlich bog das Bike um die Ecke, ein Modell, das nur noch aus Schrott zu bestehen schien. Auf dem Motorrad sass eine Frau. Ihre Dreadlocks flatterten unter dem archaischen Kriegshelm hinter ihr her, die Lederjacke war zwei Nummern zu gross, auf dem Fetzen, den sie darunter trug, war Blut eingetrocknet. Die Frau lenkte das Motorrad auf eine kleine Anhöhe, hielt an und blickte sich um. Der trockene Wind trug Geräusche heran, Gesang und zarte Klänge. Die Raiderin stutzte. Sie kannte Musik, denn wo Menschen leben, wird Musik gespielt – die Klänge der alten Welt, plärrend und scheppernd aus reparierten Lautsprechern, oder die rauen Gesänge der andern Raider, wie sie sie jede Nacht am Feuer grölten. Sie lenkte ihr Motorrad zu einer vertrockneten Baumgruppe, stieg ab und versteckte das Gefährt, so gut das eben auf die Schnelle ging. Normalerweise patrouillierten alle Raider mit Motorrädern und den wenigen Autos, die sie noch hatten. Damit waren sie zwar schnell, aber eben nicht leise – und die Raiderin wollte erst sehen, wer da mitten in der verödeten Pampa Musik machte, ehe sie selber gesehen wurde. Sie kannte das Gelände, das vor ihr lag. Die zerbombten Überreste einer Stadt, vertrocknete Bäume, ab und zu die ausgeschlachtete Ruine eines Wagens. Sie hielt sich verborgen, schlich Mauerresten entlang und mied offene Plätze, während sie der Quelle der Musik stetig näher kam. Und dann sah sie sie. Auf der Ladefläche eines Wagens sass eine Frau und spielte ein Saiteninstrument. Einen Moment stand die Raiderin verblüfft in ihrer Deckung und starrte auf den ungewohnten Anblick, dann setzte ihr Verstand wieder ein.

Das Saiteninstrument mochte etwas wert sein. Sie konnte es schlecht abschätzen, aber zusammen mit der Musikerin war es unbezahlbar. Und der Wagen erst! Sie würde die Frau niederschlagen und fesseln. Dann musste sie nur noch ihr Bike holen, auf die Ladefläche hieven und einem triumphalen Einzug ins Lager würde nichts mehr im Weg stehen. Mit dem Truck und einer Sklavin würde sie in der Raider-Hierarchie deutlich aufsteigen. Kein Hungern mehr, kein wühlen im Müll, keine dreckigen Hände auf ihrem Körper, die sie erdulden musste. Sie schlich um eine Ecke und näherte sich der Frau von hinten, die gerade laut und fröhlich über ihre zerlumpte Kleidung sang. Lautlos zog die Raiderin ihr Messer aus der Scheide und drehte die Waffe, um nach einem Sprung auf das Auto die Frau mit dem Knauf k.o. zu schlagen. In diesem Moment legte sich etwas um ihren Hals und zerrte sie brutal nach hinten. Die Raiderin stach zu, aber die Klinge fuhr ins Leere. Jemand packte die Hand mit dem Messer und verdrehte sie, sodass sie die Klinge fallen lassen musste. Nur halb realisierte sie, dass die Angreifer mindestens zu zweit waren, sie sah einen Schemen roten Haares, ehe sie mit dem Gesicht voran zu Boden gedrückt wurde.Jemand kniete sich auf sie. Sie trat um sich und wand sich, konnte aber nicht verhindern, dass ihr der Angreifer die Hände auf dem Rücken fixierte. Hände tasteten über ihre Hüfte, fanden die Tasche an ihrem Gürtel und öffneten sie. „Die hat ja nichts“, beschwerte sich eine Frauenstimme. „Sie hatte ein Messer“, erwiderte eine zweite Frauenstimme, deutlich vergnügter. „Lasst mich frei“, kreischte die Raiderin. „Ich hab nichts ausser dem Messer, das habt ihr ja selbst grad gesehen.“ „Wir könnten sie essen“, schlug eine dritte Stimme vor. Die Raiderin erstarrte. „Kannibalismus ist widerlich“, fauchte eine weitere Frauenstimme. „Raider auch“, hielt die andere dagegen. „Der Witz war schon beim ersten Mal nicht lustig“, keifte die erste Stimme.

Die Raiderin blieb still liegen. War sie einer Gruppe von Verrückten in die Arme gelaufen? „Was ist mit ihren Stiefeln?“ fragte die Kannibalin. „Ich könnte neue Stiefel gebrauchen.“ „Schau es dir selber an“, gab die zurück, die die Raiderin zu Boden drückte. “Die hat keine Stiefel. Die hat sich irgendwelche Lumpen um die Füsse gewickelt.“ Die Raiderin fühlte mehr, als dass sie hörte, wie sich Leute um sie herum aufstellten. Der Druck auf ihrem Rücken liess nach. Sie rollte herum und sah, dass sich fünf Frauen um sie herum aufgestellt hatten. Fünf Amazonen, wie sie nur die Ödlande gebähren: Dreckig, vernarbt, aber auch mit funktionaler Schutzausrüstung und ein paar liebevollen Details, die bewiesen, dass sich manche Menschen selbst im postapokalyptischen Zeitalter aufbrezeln wollten. Zwei hatten feuerrotes Haar, eine erinnerte mit ihrer Kriegsbemalung an einen wütenden Falken und eine trug einen Helm mit Hörnern. Die Musikerin, die gerade vom Wagen kletterte, hatte sich die Seiten ihres Schädels rasiert. Der Blick der Raiderin irrte zwischen den fünf Amazonen umher. Eine der Rothaarigen spielte mit ihrem Messer. „Lasst mich gehen“, sagte die Raiderin, und ihre Stimme klang weinerlicher, als sie wollte. „Ich hab nichts, das habt ihr selbst gesagt.“

„Und dann gehst du zurück zu deinen Raider-Freunden?“, fragte die Rothaarige mit dem Messer.
„Wir sollten sie vielleicht wirklich gehen lassen.“ sagte die Musikerin. „Schaut sie euch an, die ist ja nur Haut und Knochen. Da werden wir ohnehin nicht satt.“ „Kannibalismus ist nicht witzig“, schimpfte ihre Gefährtin mit dem Helm und trat nach der Musikerin. Diese wich dem Tritt nur halb aus und schlug mehr reflexartig denn gezielt nach der Angreiferin. Die Frau mit dem Helm trat ein zweites Mal, die Musikerin schubste sie weg, aber die andere packte sie am Arm und zog sie mit sich. Die Rothaarige mit dem Messer verdrehte die Augen. „Ich war auch mal bei den Raidern.“, sagte sie dann lapidar. „Ist scheisse, nicht wahr?“ Die Raiderin sagte nichts. „Du bist noch recht jung“, mischte sich die Frau mit der Vogel-Kriegsbemalung ein. „Mit wie vielen Raidern musstest du schlafen, um eine Motorrad zu kriegen?“ „Scheiss drauf!“ keifte die Raiderin reflexartig, dann begriff sie, dass sie einen Fehler gemacht hatte. „Du hast also ein Motorrad“, grinste die Frau mit dem Vogelgesicht. „Wo hast du es versteckt? Da hinten bei den Bäumen?“

„Ich bin zu Fuss unterwegs!“ insistierte die Raiderin, wohl wissend, was ihr blühen würde, wenn sie ohne das Bike zurück ins Lager der Raider kam. „Jetzt schon“, sagte die Rothaarige mit dem Messer lapidar. „Bitte“, flehte die Raiderin und suchte den Blick der Vogelfrau, da diese ihr die vernünftigste der verrückten Gruppe schien, „Lasst mich einfach gehen. Behaltet meinetwegen mein Messer, ich...“ Sie wurde abgelenkt, weil plötzlich ein Helm mit Hörnern an ihr vorbei flog. „Hey“, brüllte es ausserhalb ihres Sichtfeldes, dann stampfte eine Frau in ihrem Alter an ihr vorbei, wohl um sich ihren Helm zu holen. Die Musikerin stellte sich schwer atmend wieder zu ihren Gefährtinnen. „Kommt die Kleine jetzt mit?“ fragte sie in die Runde. „Wir verhandeln noch“, sagte die Vogelfrau. „Was?“ stöhnte die Raiderin. Hinter ihr heulte ein Motor auf. Die Raiderin stöhnte. Das Motorrad kam näher, dann verstummte der Motor. „Schaut mal, was ich gefunden habe“, verkündete eine triumphierende Frauenstimme, „sie verstecken es immer in den Bäumen.“ „Sehr gut“, freute sich die Musikerin, „sowas brauchen wir im Shelter.“ Die Raiderin drehte sich um und sah eine sechste Amazone, mit dunkler Haut und verfilztem schwarzem Haar, das ihr auf die Schultern hing. Wie viele von diesen verrückten Weibern gab es?

„Wir sollten allmählich weiter ziehen“, sagte die Rothaarige ohne Messer. „Wenn die hier“; sie deutete auf die Raiderin „nicht rechtzeitig zurück ist, schicken sie die nächste Patrouille – verstärkt und bewaffnet.“ Sie grinste schief. „Auch ich war mal bei den Raidern. Ich weiss, wie es läuft. Und wie meine Freundin hier vorhin so treffend bemerkte: Es ist scheisse, nicht wahr? Wer bei den Raidern überleben will, muss ein Arschloch werden.“ Die Raiderin zuckte die Schultern. Unrecht hatten die Frauen ja nicht. „Also“, sagte die Rothaarige und steckte das Messer weg, „wenn du dich aufrichtest, löse ich die Handschellen. Dann kannst du gehen. Oder mit uns kommen. Das Messer kriegst du nicht zurück, ich hab keinen Lust, dass du es mir in den Rücken rammst, wenn wir gehen.“ Die Raiderin starrte mit offenem Mund zu ihr hoch. „Du überforderst das arme Mädchen“, sagte die Frau mit dem Vogelgesicht. „So schwierig ist das nicht“, hielt die Musikerin dagegen. „Du kannst ohne Motorrad zurück zu deinen alten Raider-Kollegen, oder du kommst mit uns. Oder du ziehst alleine weiter.“ Sie zuckte die Schultern. „Deine Entscheidung.“

Die Raiderin richtete sich halb auf. Die Rothaarige trat hinter sie und öffnete wie versprochen die Handschellen. „Ihr seid doch verrückt“, stiess die Raiderin aus. „Vermutlich“, bestätigte die Musikerin trocken und wandte sich an die dunkelhäutige, die immer noch auf dem Motorrad sass. „Am besten du fährst das Ding gleich auf die Ladefläche. Mit dem Wagen sind wir immer noch schneller. Und wir sollten wirklich die Fliege machen, ehe noch mehr Raider kommen.“ Die Schwarzhaarige lenkte das Motorrad zu der Ladefläche, wo die Rothaarige ohne Messer gerade eine Rampe ausklappte. „Schön, gehen wir“, sagte die Musikerin und machte Anstalten, ebenfalls auf die Ladefläche zu steigen. Die Raiderin stand verwirrt auf. Die Amazonen liessen sie tatsächlich gehen? Aber wohin sollte sie? Allein in den Ödlanden zu überleben war schwierig, und die Chance, gleich der nächsten Raidergruppe in die Hände zu fallen, auch nicht gerade klein. Bei ihrer jetzigen Raidergruppe hatte sie sich zumindest einen Platz erkämpft, der nicht ganz unten in der Hierarchie war – aber wenn sie ohne Motorrad zurück ins Lager kam, waren Prügel das mindeste, was sie zu erwarten hatte. Sie schluckte. Ohne zu fragen stieg sie nach der Musikerin die Rampe hoch. Die Rothaarige, die ihr Messer eingepackt hatte, riss derweil die Tür zur Fahrerkabine auf. Die Vogelfrau kletterte auf das Dach des Wagens, die anderen machten es sich auf der Ladefläche gemütlich. In einer Ecke stand ein Kanister mit Wasser. Die Raiderin leckte sich die Lippen. Die sechs verrückten Amazonen schienen es tatsächlich ernst zu meinen. „Wohin fahren wir?“ fragte sie, als die Rothaarige den Motor startete.

Die Musikerin ruckte mit dem Kopf in Richtung der fernen Berge. „Nach allem, was man hört, lebt dort hinten ein weiterer Raiderstamm. Der Anführer ist nicht der hellste, sie haben viele Waffen und eine Quelle – anscheinend nutzen sie das Wasser vor allem, um irgendwelche Rüben anzubauen, aus denen sie Schnaps herstellen.“ Sie grinste. „Und ich hätte gern etwas von diesem Rübenschnaps. Und Waffen können wir immer gebrauchen.“ „Ihr geht Raider ausrauben?“ „Nein“, sagte die Vogelfrau weise, „wir rauben sie nicht aus. Wir übertölpeln sie.“ „Und das funktioniert?“ Mehrere Amazonen blickten bezeichnend auf das erbeutete Motorrad. Die ehemalige Raiderin schwieg betreten. Ganz allmählich begann sie zu begreifen, wie viel Glück sie eben gehabt hatte. Der Wagen rollte an. „Wie heisst ihr?“ fragte die ehemalige Raiderin. „Wir sind Rogue Tribe“, sagte die Schwarzhaarige. „Und du?“

 

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